Monika Walter
Der verschwundene Islam?
Für eine andere Kulturgeschichte Westeuropas
Wilhelm Fink Verlag, Oktober 2016.
ISBN 978-3-7705-6135-3
533 Seiten
Das Buch wendet sich nicht allein an Romanisten, obwohl seinen Ausgangspunkt gegenwärtige Kulturdebatten in Spanien und Frankreich bilden. Seit den 1990er Jahren haben dort Historiker,
Literaturwissenschaftler und Arabisten ihre Forschungen in einer Zielrichtung gebündelt, die ähnlich klingende Formeln und Metaphern hervorgebracht hat: „historia incómoda“ („unbehagliche
Geschichte“), „nuestro Oriente doméstico“ („unser heimischer Orient“) , „histoire-problème“ („Problem-Geschichte“), „otros anteojos“ („die andere Brille“), „histoire sous le tapis“ („die Geschichte
unter dem Teppich“).
Vor allem die metaphorischen Register suggerieren bestimmte Dunkelzonen von Geschichte, die offenbar nur schwer auf klare Begriffe zu bringen sind. Gemeint ist mit ihnen aber keineswegs eine
spektakuläre terra incognita. Zu dem Thema „Islam in Spanien, Frankreich und Westeuropa“ ist seit dem 17. Jahrhundert bereits ausgiebig geforscht worden. In den postkolonialen 1970er Jahren
galt es, ein zentrales Denkmuster dieses klassischen Orientalismus zu überwinden: den als unüberwindlich
inszenierten Gegensatz zwischen Islam und Europa. Heutzutage ist ein historisches Wissen über al-Andalus und damit über achthundert Jahre muslimischer Präsenz auf der Iberischen Halbinsel weit in die
Massenmedien vorgedrungen. Doch diese gleichen Medien hat seit den 1990er Jahren auch eine Ideologie des „Schocks“ der Zivilisationen und Kulturen besetzt, wie sie der britische Arabist Bernard Lewis
und der amerikanische Kulturanthropologe Samuel Huntington entworfen haben.
Ein solches Blockdenken ist umso mehr in die Öffentlichkeit zurückgekehrt, wie es
durch die erfolgreiche Einbürgerung von Millionen muslimischer Migranten eigentlich faktisch widerlegt und in einem bestimmten Teil der Forschung schon weitgehend überwunden worden ist. Diesen
paradoxen Vorgang veranschaulichen die Vertreter von „historia incómoda“ und „histoire-problème“. Ihre Forschungsergebnisse sind weitgehend nur einem Spezialistenkreis bekannt geworden, doch gehören
sie unbedingt in eine aktuelle Islamdebatte. Zeigt es sich doch, dass ein solcher, in der Vergangenheit freigelegter „häuslicher Orient“ noch heute einem bestimmten
nationalen und europäischen Mythendenken entgegensteht. In diesen Gründungsmythen ist bisher 'Spaniertum' (españolidad), 'Französischsein' (francité) und eine
Europeaness so bestimmt worden, dass sie alle grundsätzlich nichts mit dem Islam als Religion und als Kultur zu tun haben.
Mein Buch stellt sich den Schlussfolgerungen, die aus den Forschungsergebnissen zu den genannten Formeln und Metaphern zu ziehen sind. Es zielt somit auf nichts weniger als auf einen anderen Entwurf
einer European Identity. Würde ein islamisches Kulturerbe auch als Ergebnis jahrhundertelanger innereuropäischer Verflechtungsprozesse wahrgenommen, müsste dann diese, bisher
christlich-jüdisch definierte Identität der Westeuropäer nicht auch eine muslimische Dimension bekommen? Mit einer anderen Wahrnehmung spanischer und französischer
Literaturgeschichte möchte ich einen weiteren Beitrag für eine Kulturgeschichte des Islam in Westeuropas leisten, wie sie in ersten Umrissen bereits vorliegt.
Inhalt
1. Vorspiel: Der Zeuge „Vom anderen Ufer“
11
„Schwankes Rad Fortunas“ (11) – „Fegefeuer schon im Leben“ (14) –
Die „freiesten Jahre“ seines Lebens? (22) – „Immer Katholik und treuer
Christ“ (26) – Der Grenzgänger Saavedra (28) – Außenseiterblick eines
Neuchristen? (31) – Schlussakkord (34)
2. Einführung: Eine Islamgeschichte „Unter dem Teppich“? 37
Mit „blinden Augen sehen“ (42) – „[...] längst von dem Boden der
Weltgeschichte verschwunden“ (47) – Die Mythen um Hispania (52) –
Der Islam als „Frage für Frankreich“ (58) – Ein romanistisches
Thema (61) – Fragestellungen und Gliederung (64)
3. Cervantes' Moriske Ricote -
eine Spur in die spanische Islamgeschichte? 69
„Freund Sancho“ und „Bruder Ricote“ (69) – Der Moriske als kastili-
scher „manchego“ (74) – Eine spanische „Anormalität“? (78) – Das Pa-
radox der christlichen dhimma (83) – Die „negotiating cultures“ der
Herrscher (87) – Das alfonsinische Kulturkonzept (93) – Ein christia-
nus arabicus aus Mallorca (98) – Der Mudejarismus (103) – Die Gra-
nadiner Grenzkultur (106) – Juden und Muslime als Inbegriff des
„Spaniers“? (107) – Wie „katholisch“ waren die Reyes Católicos? (108) –
Die „Vernichter“ der mohammedanischen Sekte (113) – Ergebene Va-
sallen oder treue Untertanen (116) – Das Stigma des Unreinen: die jü-
dischen conversos (119) – Das Stigma der Täuschung: die Morisken
(126) – Der „edle Maure“ oder die Maske des Dissidenten (133) –
Eine Republik der Tagträumer? (142) – Das spät gelüftete Geheimnis:
die „aljamiadische Literatur“ (149) – Letzter Streit um die Morisken
(154) – Cide Hamete Benengeli – ein Moriskenschreiber im Unter-
grund? (156)
4. Ein geheimer Dialog?
Christliche und muslimische Mythen über Hispania 161
Der mysteriöse Fund am Sacromonte (161) – Vielschreiber, Fälscher
oder Visionär: der Fall Miguel de Luna (168) – Juan Marianas „Be-
ginn unserer Erzählung“ (170) – „Diese von unseren Spaniern so er-
sehnte Historie“ (175) – Der Schatten des Ibn Khaldun (178) –
Hispania – Brückenkopf zwischen Orient und Okzident (184) –
Überlebenskünste gegen Eroberungspathos (187) – Zwei wieder ent-
deckte Zeitzeugen oder :„Wer kann so große Gefühle erzählen?“ (190)
– Die Christen als Märtyrer (196) – Der Skandal der arabisierten
Christen (200) – Convivencia als intimes Beisammensein (204) – Das
Paradox der blonden Omaijaden (208) – Die Konstrukteure einer ara-
bisch-muslimischen Hispania (213) – „Mixti Árabes“ oder die katholi-
schen Erben von al-Andalus (218) – Der königliche Erzähler Alfons X.
(228) – Mögliche Vorläufer für Cide Hamete Benengeli (235)
5. Ausblick oder „die Rückkehr der
Morisken"
239
Von verschwundenen Morisken und zugereisten Orientalen (239) –
„Eine wahrhaftig universale Geschichte“ (242) – Die Reconquista oder
die Geburt eines modernen Gründungsmythos (246) – Ein „häusli-
cher Orient“ wird wiederentdeckt (248) – Die erste „Rückkehr der
Morisken“ (254) – Muslime in der „Hispanität“ der 1898er (260) –
Der Streit um das „historische Gesetz“ Spaniens (262) – „Haut an
Haut“ oder Ortega y Gassets spätes Lob des Islam (268) – Die ,Mau-
renliebe‘ eines Diktators (272) – Noch einmal: „Geschichte als intel-
lektueller Zweikampf“ (275) – Ein Meisterschüler von Sánchez-Albor-
noz (281) – Endgültige Rückkehr der Morisken? (284) – Das
„spanische Modell“ (290) – Vorläufiges Schlusswort (292)
6. Eine Ahnenreihe der „histoire-problème“ -
von Abaelard bis Rousseau 295
„Sokrates in Frankreich“ (295) – Ein Glaubensbasar für Katholiken?
(299) – Anfänge westeuropäischer Islamkritik: Petrus Venerabilis
(304) – Die „Summe wider die Heiden“ – ein Kampfaufruf gegen
Mohammed? (308) – Der missverstandene Averroes (311) – „Eine Ka-
rikatur des Islam“? (314) – Der „gefährliche Reiz“ des Islam (315) –
Islambilder im mittelalterlichen Alltag (317) – Von muslimischen
Haussklaven und fränkischen Sarazenen (319) – Die neuzeitliche Is-
lamfrage (323) – Französische Realpolitik mit dem Erzfeind? (326) –
Der gelehrte Orientalist als Abenteurer (330) – Ein letztes Treffen in
Venedig (335) – Eine seltsame Leerstelle bei Michel de Montaigne
(339) – Der überlegene Orient? (343) – „Was bislang den Europäern
verborgen geblieben war“ (349) – Islamophile Frühaufklärer (352) –
Ein Aufklärer als Gastgeber persischer Muslime (357) – Der „vorur-
teilslose Mensch“ Voltaire (362) – „Der Türke, mein Bruder?“ (365) –
Rousseaus ideale Republik ohne Muslime? (374)
7. Muslimische Zeitgenossen? Zum Islam in Frankreichs Moderne 381
„Ein Mohammed des Westens“ (381) – Die ägyptischen Zeitgenossen
(388) – Ein Muslim bereist „das Land der Franken“ (391) – Die Ge-
genmythen des Chateaubriand (394) – Die neuen Verschiebungs-
künste (400) – Der Islam als moderne Barbarei (404) – Der Orient
vor der Haustür (409) – „Jetzt ist man orientalistisch“ (412) – „Ich bin
hier mitten in Tausendundeiner Nacht“ (413) – Flauberts orientali-
scher „Künstler-Gott“ und Maupassants Sonnenekstase (417) – My-
thische Heimat eines Weltenbummlers (421) – Die Umkehrperspek-
tive (424) – Eine Utopie der Versöhnung (426) – Ein „franko-
muslimisches Algerien“ – eine koloniale Fiktion? (430) – Der algeri-
sche Gegenentwurf: ’Abd al Qadir (432) – Der republikanische
Gleichheitstraum (436) – Ein Orientalist als Rassedenker? (441) –
Renans muslimischer Gesprächspartner (444) – Ein Treffen von Zeit-
genossen? (447) – Das „gemischte Vermächtnis“ des Jamal al-Din
(454) – Ein doppeltes Verschwinden der französischen Muslime (462)
8. Ausblick: Die Erinnerungsgemeinschaft der
muslimischen Franzosen 469
„Das französische Paradox“ (469) – Das „algerische Mysterium“ eines
Generals (472) – Die postkolonialen Republikaner (476) – Das „Wi-
derspruchswesen“ muslimischer Migranten (484) – Die frankophone
Erinnerungsgemeinschaft (490) – Abdelwahab Meddeb oder der „ara-
bische Europäer“ (498) – Das „offene historische Wir“ des Moham-
med Arkoun (504)
9. Epilog: Eine Traumvision in
Toledo
517
Autorenverzeichnis 529
Rezensionen/Buchempfehlung
Buchempfehlung in "Der Islam und die Europäer", Der Spiegel, Geschichte, 1/2017, S. 137:
Die Romanistin hat die spanische und französische Literatur akribisch auf ihr Erbe aus den Jahrhunderten arabisch-muslimischer Kultur in Spanien durchgesehen. Souverän gelingt es ihr, wie iberische Forscher sagen, "die Geschichte unter dem Teppich" freizulegen.